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Wie gehen wir mit unseren Toten um?
Es ist Freitag. Verzweifelt sitzt die Mutter am Krankenbett ihrer 6-jährigen Tochter. Sie wurde mit einer lebensbedrohlichen Viruserkrankung ins Krankenhaus eingeliefert und ihre Chancen zum Überleben waren gering. Sehr gering! Als die Kleine ihre Mutter fragte, ob sie jetzt sterben müsse, hielt die Mutter ganz fest ihre zierliche Hand und erzählte ihr vom Himmel, den Engeln und dem lieben Gott. Stunden später verstarb die Tochter in ihren Armen. Geistesgegenwärtig traf die gebrochene Frau eine Entscheidung. Sie beauftragte ein Beerdigungsinstitut, den kleinen Leichnam zu ihr nach Hause zu bringen. (Das ist, oh welch ein Wunder, in Deutschland möglich/erlaubt.) Dort legte sie das Kind sanft in ihr Ehebett und schmückte das Zimmer liebevoll mit Blumen, Bildern und Kerzen. Der Vater quartierte sich derweil im Wohnzimmer ein, weil er den Anblick seiner toten Tochter nicht ertragen konnte. Sie dagegen, verbrachte die ganze Zeit mit ihr im Schlafzimmer und verließ es nur, wenn es nicht anders ging. Sie legte sich nachts neben ihre Tochter und versuchte einzuschlafen. Manchmal gelang es ihr kurz, aber wenn nicht, stand sie auf, las ihr aus einem Märchenbuch vor oder sang eines ihrer Lieblingslieder. Auch saß sie stundenlang im Kerzenschein vor ihrem Tagebuch und schrieb dort ihren Schmerz nieder. Am darauffolgenden Montag wurde der kleine Leichnam nun endgültig abgeholt und die Beerdigung vorbereitet. Als ich die Mutter erstaunt fragte, woran es liegt, dass sie mir ihre Geschichte mit einer so festen, klaren Stimme erzählen kann, weil ich den Unterton einer tiefen Trauer vermisste, antwortete sie mir: „Ich hatte Zeit, mich von meinem Kind zu verabschieden. Nur so war ich in der Lage, „loszulassen!“
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Anni S., ein Frau Mitte 60, steht auf der Terrasse und hat liebevoll den Frühstückstisch gedeckt. Sie wollte zusammen mit ihrem Mann den herrlichen Sommermorgen genießen. Als alles fertig war, ging sie zum Schlafzimmer, um ihren Gatten zu wecken. Sie öffnete die Tür und blieb wie versteinert stehen. Ihr Mann lag noch im Bett und schaute sie an. Aber sein leerer Blick ging durch sie hindurch. Sein aschfahles Gesicht war ihr auf einmal fremd, obwohl sie 40 Jahre miteinander glücklich verheiratet waren. Angst und Panik übermannte sie. Sie lief hilfeschreiend aus der Wohnung und klingelte bei ihrer Nachbarin. Die rief den Notarzt und der stellte Tod durch Herzversagen bei ihm fest. Während Anni nicht in der Lage war, ihre Wohnung zu betreten und immer noch bei der Nachbarin verweilte, holte ein Bestattungsunternehmen den Leichnam ab. Die auch zwischenzeitlich alarmierte Tochter holte ihre verstörte Mutter zu sich und bot ihr an, solange bei ihr zu bleiben, bis die nötigen Behördengänge und die Beerdigung abgeschlossen waren. Danach betrat Anni zwar widerwillig ihre Wohnung, war aber nicht mehr in der Lage, ihr Schlafzimmer zu betreten. Das für sie unheimliche, ja fast grauenvoll beängstigende Bild ihres toten Mannes wollte einfach nicht aus ihrem Gedächtnis verschwinden und verursachte bei ihr einen eiskalten Schauer nach dem anderen. Ihre Tochter stand ihr auch weiterhin hilfreich zur Seite. Während sie Kleidung und andere persönlichen Dinge für ihre Mutter aus dem Schlafzimmer holte und sie im Wohnzimmer platzierte, traf Anni eine für sie wichtige Entscheidung. Sie wollte den Raum so herrichten lassen, dass sie ihn an einen freundlichen Menschen untervermieten kann.
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Meine Frühschicht im Altersheim begann wie immer um 6:00 Uhr morgens. Als ich die Pflegestation betrat, wurde schon gemunkelt, dass Herr N. seinen 6-ten Schlaganfall erlitten hatte und den heutigen Tag wohl nicht überleben würde. Die tägliche Prozedur wurde eingeleitet: Gemeinsames Gebet, Lagebesprechung und Stationsübergabe, eine Zigarette geraucht, wieder ein gemeinsames Gebet und anschließende Arbeitseinteilung. Ich stand vor Herrn N. und obwohl ich kein Arzt bin, erkannte ich sofort, dass es sich hier nur noch um Minuten handeln konnte. Ich informierte die Stationsschwester. Sie warf einen flüchtigen Blick auf den Sterbenden, riss hastig sein Bett herum und jonglierte es unbeholfen aus dem Zweibettzimmer in ein Einzelzimmer. Zum Glück war dieses gerade frei, sonst hätte man Herrn N. in das kalte, weiß gekachelte Bad verfrachtet, um ihn dort sterben zu lassen. „Wasche ihn und danach komm in Zimmer 3, dort muss ein Bett bezogen werden,“ war ihre Arbeitsanweisung und ließ mich mit dem Mann allein. Sekunden überlegte ich, was ich mir wünschen würde, läge ich an seiner Stelle dort sterbend im Bett. Wäre es mein Wunsch, in meinen letzten Atemzügen noch gewaschen zu werden? Oder wünschte ich mir meine Ruhe? Kurzerhand entschied ich mich „gegen“ die Anweisung. Ich nahm den Waschlappen, nässte ihn an und legte ihn zur Seite. Dann holte ich einen Stuhl, zog ihn an sein Bett und setzte mich zu ihm. Ich griff nach seiner Hand und streichelte sie. Es dauerte keine drei Minuten, dann schlief Herr N. für immer ein. Erst jetzt nahm ich den Waschlappen, tupfte vorsichtig sein Gesicht damit ab und entferne den Speichel aus seinen Mundwinkeln. Dann schloss ich seine Augen. Ich war mir sicher, richtig entschieden zu haben. Nachdem ein Arzt gerufen war, der den Totenschein ausstellte, wurde das Bett wieder mit roher Gewalt aus dem Zimmer gezerrt, in den Fahrstuhl verfrachtet und der Leichnam durch ein kaltes, dunkles Kellergewölbe geschoben, wo man für solche „Fälle“ einen provisorischen, fensterlosen Raum eingerichtet hatte. Den Rest übernahm ein Bestattungsinstitut.
Ich möchte noch erwähnen, dass für diese Einrichtung, die immerhin bis zu 400 Senioren beherbergt, nicht eine einzige Planstelle für einen Arzt zur Verfügung gestellt wurde, aber jede Menge Platz für selbsternannte oder selbstberufene Prediger vorhanden war!!!
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Mit meinem letzten Beispiel will ich nicht verdeutlichen, was für ein toller Hecht ich doch bin, sondern nur einmal darauf hinweisen, wie es geht oder gehen kann, wenn man seine Angehörigen aus welchen Gründen auch immer, vertrauensvoll in fremde Hände übergibt. Der Glaube, dass dieser Mensch dort in seiner letzten Stunde nicht alleine gelassen und mit liebevollem Beistand umsorgt ist, kann ein „großer Irrtum“ sein.