Der Patient von Zimmer 7

laf Bergmann war Anfang 50. Durch eine schwere chronische Krankheit musste er seinen Beruf aufgeben und war nun Frührentner. Er führte mit seiner Frau Susanne eine harmonische aber kinderlose Ehe. Gerne hätte er einen Sohn gehabt, aber dieser Wunsch blieb ihm verwehrt. Manchmal, wenn er sich unbeobachtet fühlte, lehnte er sich in seinen Sessel zurück und malte sich die tollsten Geschichten aus die er, wenn er denn einen Sohn gehabt hätte, mit ihm erleben würde. Meistens schlief er darüber dann lächelnd ein.
Er suchte schon lange eine ehrenamtliche Beschäftigung im sozialen Bereich, denn er war ein lebensbejahender Mensch, der immer freundlich und hilfsbereit war.
Eines morgens kam seine Frau mit einer aufgeschlagenen Zeitung zu ihm und rief aufgeregt: „Schau mal, hier ist eine Annonce, die für dich vielleicht interessant wäre. Hier steht, es werden ehrenamtliche Helfer und Betreuer für die Patienten in unserem Krankenhaus gesucht.“
Olaf griff neugierig nach der Zeitung und meinte: „Ja das wäre was für mich. Ich werde heute noch anrufen und mir einen Termin geben lassen.“
Schon am nächsten Tag stand er in der Personalabteilung des Krankenhauses und wurde von einer freundlichen Dame aufgefordert Platz zu nehmen. „Ich werde Ihnen im einzelnen erklären, um was es sich für Tätigkeiten hier in unserem Haus handelt“ sagte sie und fuhr fort: „Es werden Hilfskräfte in der Bibliothek benötigt, die unsere Patienten einmal in der Woche mit Lesestoff versorgen oder Betreuer, die jene Patienten ebenfalls einmal in der Woche aufsuchen, die keine Angehörigen haben und somit auch keinen Besuch bekommen.“
Olaf überlegte nur kurz und bot seine Hilfe im Bereich der Bibliothek an. Dort hätte er jede Menge Kontakt zu den verschiedensten Patienten indem er sie aufsuchen würde, um ihnen die Bücher alt gegen neu auszutauschen. Für die Betreuung jener Menschen, die ganz auf sich alleine gestellt waren, fehlte ihm dann doch letztendlich der Mut, weil er befürchtete, sich mit ihnen zu sehr zu identifizieren.
Nachdem alles besprochen war, wurden ihm freundlich die Hände geschüttelt, und er wurde als dringend gesuchte Hilfskraft willkommen geheißen. Sein erster Arbeitstag sollte schon der darauffolgende Morgen sein.
Freudig erzählte er seiner Susanne von dem gelungenen Vorstellungsgespräch, und dass er sich über seine neue Aufgabe sehr freue, zumal der Weg dorthin nicht sehr weit war, und er ihn mit seinem Fahrrad schnell bewältigen könnte. Er hatte nun endlich wieder das Gefühl, gebraucht zu werden.
Er traf pünktlich im Krankenhaus ein und ließ sich von einem Kollegen in seine neue Tätigkeit einweisen. Er nahm sich einen Wagen, rollte mit ihm durch die langen Gänge von Zimmer zu Zimmer, sammelte die ausgelesenen Bücher ein und erkundigte sich nach den neuen Wünschen der Patienten, die er sich auf einen Block notierte. In der Bibliothek suchte er den angeforderten Lesestoff heraus und verteilte ihn dann so wie er es sich notiert hatte.
Ihm waren keine Fehler unterlaufen, und es kam ihm vor, als würde er diese Tätigkeiten schon mehrere Wochen machen. Selbst der Kontakt zu den kranken Menschen bereitete ihm große Freude, merkte er doch schnell, wie viel Dankbarkeit ihm entgegengebracht wurde.
Nur um Oberschwester Berta machte er einen großen Bogen. Die kleine rundliche und resolute Person war ihm unheimlich. Er hatte das Gefühl als würde diese Frau nur Kälte und Hartherzigkeit ausstrahlen. Aber er hatte mit ihr so gut wie nichts zu tun, und das wiederum beruhigte ihn.
Er machte seine Arbeit nun schon einige Monate. Bei seinen Patienten und dem übrigen Pflegepersonal war er durch seine Tüchtigkeit und seine warmherzige Art den Patienten gegenüber sehr beliebt. Viele Patienten kamen und gingen, und Olaf lernte immer wieder neue Menschen kennen. Von manchen fiel ihm bei deren Entlassung der Abschied schwer, aber es waren auch immer wieder Leute darunter, die an allem etwas auszusetzen hatten und deren Ansprüche nur schwer zu erfüllen waren. Von denen hielt er sich bewusst fern, dann fiel ihm der Abschied auch dementsprechend leicht.
Es war ein wunderbarer Frühlingsmorgen, die Luft war rein und roch nach Blüten und Blättern. Um diesen Geruch zu genießen, ging Olaf heute ausnahmsweise zu Fuß ins Krankenhaus und ließ sein Fahrrad stehen.
Kaum hatte er die Eingangshalle des Krankenhauses betreten hörte er schon von Ferne Schwester Berta rufen: „Herr Bergmann ich möchte sie dringend sprechen und das bitte jetzt sofort!“
Olaf wurde es mulmig zu mute. „Habe ich etwas falsch gemacht?“ fragte er sich und schlug seinen Weg in Richtung Schwesternzimmer ein. Dort stand sie, ihre Arme in den Hüften abgestützt und mit einem Fuß wippend. Er erwartete ein Donnerwetter und fragte dennoch höflich: „Was haben sie auf dem Herzen? Kann ich ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein?“
„Oh ja das können sie“, sagte sie in einem Ton, der schon versöhnlicher klang. „Ich beobachte sie schon seit einiger Zeit und bin mit der Art und Weise, wie sie mit unseren Patienten umgehen, sehr zufrieden. Leider muss ich ab sofort auf einen unseren Betreuer verzichten. Er kommt nicht mehr, deshalb wollte ich sie fragen, ob sie sich solch einer Aufgabe gewachsen fühlen und ob sie seine Arbeit übernehmen können.“
„Und was wird mit der Bücherausgabe?“ fragte Olaf.
„Die würde ab sofort jemand anderes übernehmen“ war die kurze und knappe Antwort. Eigentlich war Olaf sehr enttäuscht zu hören, dass seine Arbeit, die er so liebevoll verrichtet hatte, von heute auf morgen ein anderer erledigen sollte, aber da er für alles Neue aufgeschlossen war, fragte er neugierig nach: „Um was für einen Patienten handelt es sich? Kenne ich ihn?“
„Nein“, sagte die Oberschwester, „es ist ein Neuzugang. Wenn für sie alles in Ordnung ist, gehen sie den Gang herunter, biegen unten rechts ab und gehen dort ins Zimmer 7.“
Langsam ging Olaf den ihm beschriebenen Weg. Er sah nicht, dass Schwester Berta ihm nachschaute. Zuerst nachdenklich, dann sanft lächelnd und mit dem Kopf nickend, als wollte sie sagen: „Ja, das war die richtige Entscheidung!“
Olaf stand nun vor dem besagten Zimmer und klopfte leise an. Als er keine Antwort bekam, öffnete er vorsichtig die Tür und trat herein. Es war ein Einzelzimmer. Der Patient schlief tief und fest. Olaf rückte sich einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. Erst jetzt musterte er seinen Schützling aufs genaueste. Vor ihm lag ein junger Mann, kaum 20 Jahre alt. Er hatte um seinen Schädel einen dicken, weißen Verband der notdürftig mit Heftpflaster zusammengehalten wurde.
„Er hatte bestimmt einen Auto- oder Motorradunfall“ schoss es Olaf durch den Kopf. Dann beim näheren Hinsehen fiel ihm seine klassische Schönheit auf. Seine Nase war so gerade und so fein, auch seine weichen, fülligen Lippen und sein markantes Kinn passten sich in das Gesamtbild des jungen Mannes so sehr ein, dass man ihn mit einem griechischen Gott hätte vergleichen können. Er konnte nicht ahnen, dass er mit seinen Vermutungen schon ein wenig auf dem richtigen Weg war.
Olaf war so fasziniert von diesem Jungen, dass er gar nicht mehr aufhören wollte ihn anzuschauen.
„Hinter diesen seidenlangen Wimpern befinden sich bestimmt zwei dunkle Augen“ dachte Olaf und hätte schwören können, dass er mit seiner Schätzung richtig läge. Und schon ertappte er sich dabei, dass er sich vorstellte, so wunderschön hätte auch bestimmt sein Sohn ausgesehen, wäre er jemals geboren worden.
Langsam erwachte der Junge Mann und schaute Olaf verwundert an. Der wiederum war so verblüfft als er in ansah und feststellen musste, dass sein Schützling nun doch keine schwarzen Augen hatte. Anstatt dessen schaute er in grüne Augen, die mit bernsteinfarbenen gesprenkelten Flecken übersät waren. So etwas schönes hatte Olaf jedenfalls bei einem Menschen noch nie gesehen. Dieses Farbenspiel, das sich bei jeder Bewegung änderte, ließ Olaf fast den Atem verschlagen.
„Nicht erschrecken“, stotterte Olaf noch ganz verwirrt, „mein Name ist Bergmann, Olaf Bergmann oder einfach Olaf. Ich arbeite hier ehrenamtlich für das Krankenhaus, und meine Aufgabe ist es nun für sie dazusein.“
Noch während er sich über seine unbeholfene Stotterei ärgerte, sagte der junge Mann kurz und knapp: „Ich bin Dimitri.“
„Dimitri?“ fragte Olaf neugierig „das ist kein deutscher Name. Woher stammt er?“
„Mein Vater“, sagte der junge Mann, ist Grieche. Ich habe ihn aber nie kennen gelernt. Der hat sich aus dem Staub gemacht als ich unterwegs war. Aber meine Mutter ist eine Deutsche.
Na ja was man so Mutter nennen kann. Als ich nicht mehr so funktionierte wie es ihr in den Kram gepasst hatte, wurde ich kurzerhand in ein Heim abgeschoben. Dort verbrachte ich meine Kindheit bis zur Volljährigkeit.
Heute bin ich 19. Hier liege ich nun und muss mit dem leben, was das Leben mir noch zu bieten hat.“
Olaf war über seine Aufrichtigkeit verwundert, aber dennoch erfreut, war er doch für ihn ein Fremder. Er hatte aber das Gefühl als brenne es Dimitri unendlich auf der Zunge über all die Dinge zu sprechen, die ihn bewegten.
„So schlimm wird es wohl nicht werden“, versuchte Olaf seinen Schützling zu beruhigen. „Irgendwann kommt der Verband ab, und dann sind sie wieder wie neu. Was ist eigentlich geschehen? War es ein Autounfall oder ein Sturz vom Motorrad?“
„Autounfall?“ fragte Dimitri verwundert „Motorrad? Wie kommen sie darauf?“
„Na ja ihr Verband am Kopf“, erwiderte Olaf zögernd.
„Ach der“, stöhnte Dimitri und strich mit seiner Hand langsam über den verbundenen Kopf. „Der ist nur zum Schutz wegen der Chemo-. Ich habe Schwester Berta gebeten ihn mir anzulegen, damit ich nicht zu lächerlich wirke. Zuerst eine Glatze, dann noch ein Kopftuch, nein danke. Dann lieber ein Verband.“
„Chemo-“ hakte Olaf ungeduldig nach „warum eine Chemotherapie?“
„Na wegen meiner Krankheit. Ich habe Krebs, hat man das ihnen nicht gesagt? Um genauer zu sein, ich habe Leukämie.“
Olaf überkam ein Gefühl als hätte man ihn ins Gesicht geschlagen, und dann empfand er eine endlose Wut. Warum hatte die Oberschwester ihn nicht vorgewarnt? Er stand da wie ein dummer Junge und hatte alle Not und Mühe, diese peinliche Situation zu überspielen. Nur eines war ihm klar. Er musste so schnell wie möglich heraus aus dem Zimmer, weil er meinte keine Luft mehr zu bekommen. So langsam wie es nur ging, erhob sich Olaf von dem Stuhl und sagte knapp: „Bin gleich wieder zurück. Muss mal eben für kleine Jungs.“
An der Tür angelangt, drehte sich Olaf noch einmal zu Dimitri um und sah, dass dieser ihm mit einem enttäuschten traurigen Blick nachschaute.
Er öffnete die Tür und verließ das Krankenzimmer. Dort erwartete ihn schon aufgeregt Schwester Berta.
„Was haben sie sich nur dabei gedacht, mich so offen ins Messer laufen zu lassen?“ herrschte Olaf sie an, „sie haben mich in eine unmögliche Situation gebracht.“
„Bitte beruhigen sie sich“ sprach Schwester Berta beschwichtigend auf ihn ein und legte ihre rechte Hand auf seinen linken Brustkorb. „Hören sie was ich hier höre?“ beschwörte sie Olaf, „hier schlägt ein Herz, das sich an seiner richtigen Stelle befindet. Ein warmherziges menschliches Herz. Geben sie dem Jungen etwas davon ab. Lassen sie ihn nicht im Stich und nehmen sie sich seiner an. Ich habe sie absichtlich nicht über seinen ernsten Zustand informiert, weil ich nicht das Risiko eingehen konnte, von ihnen eine Absage zu erhalten. Bitte verzeihen sie mir, aber dennoch denke ich, dass ich richtig gehandelt habe.“
„Wie soll denn das nur alles weitergehen?“ fragte Olaf besorgt „wie sollte ich ihm helfen können, und wie wird das alles enden?“
„Seien sie einfach für ihn da. Reden sie mit ihm, versuchen sie ihn aufzuheitern, um ihn von seiner Krankheit abzulenken. Vermitteln sie ihm all die schönen Dinge, die sie außerhalb des Krankenhauses erleben, und seien sie ihm ein guter Freund“, sagte Schwester Berta fast flehend und fügte dann letztendlich noch eindringlich hinzu: „Aber vergessen sie bitte nicht sich selbst darüber hinaus zu schützen. Behalten sie einen gebührenden Abstand, denn wenn sie es nicht, tun kann es eines Tages sehr weh tun.“
Olaf nickte nur mit dem Kopf und machte sich daran, das Zimmer des Jungen wieder zu betreten. Doch bevor er erneut anklopfte, schaute er noch einmal zurück zu Oberschwester Berta und dachte: „Diese kleine energische Person trägt mehr Seele in sich wie ich es nie zu träumen gewagt hätte.“
Olaf holte tief Luft und öffnete die Tür. Dimitris Augen erstrahlten bei seinem Anblick und sein Lächeln bestätigte ihm, dass er sich nun doch richtig entschieden hatte.
Von diesem Moment an entwickelte sich zwischen den beiden Männern eine tiefe Freundschaft, die man eigentlich nur als vertraute Vater- Sohnbeziehung bezeichnen konnte. Jeden Tag, den Olaf sich freimachen konnte, reservierte er für Dimitri. Er brachte ihm Obst mit, gesunde Säfte und scheute sich auch nicht davor seinen Schützling zu waschen oder ihn umzubetten. Er war immer darauf bedacht, ihm jeglichen Wunsch zu erfüllen soweit es in seiner Macht stand und wenn es nur ein kurzer Spaziergang im Rollstuhl durch den nahegelegenen Park war. Dankbar und voller Liebe nahm der junge Mann Olafs aufopfernde Hilfe an, war sich aber dennoch bewusst, dass er diese nicht als Selbstverständlichkeit ansehen durfte.
Und wenn Dimitri zu Olaf sagte, so wie er sei, hat er sich immer seinen Vater vorgestellt, hatte Olaf das Gefühl als würde sein Herz vor Freude zerspringen, denn längst schon hatte der junge Mann als angenommener Sohn einen festen Platz in seinem Leben eingenommen.
Nur Susanne seine Frau stand der ganzen Angelegenheit etwas skeptisch und ängstlich gegenüber, aber sie hatte sich vorgenommen, wenn etwas Außergewöhnliches passieren sollte, wolle sie ganz fest zu ihrem Olaf stehen und ihn auffangen.
Es war der 26te Juli. Ein wunderschöner Sommertag. An diesem Tag hatte Dimitri Geburtstag. Er wurde 20 Jahre alt. Susanne hatte extra für den jungen Mann einen ihrer köstlichen Torten gebacken. Olaf hatte schon vor Tagen einen Workman gekauft, damit sein Schützling immer seine Lieblingsmusik hören kann. Diesen Wunsch erfüllte er Dimitri zu gerne, weil er mit ihm einer Meinung war, dass der Haussender, der von dem Krankenhaus betrieben wurde, für junge Menschen alles andere als unterhaltsam war.
Freudig und gutgelaunt packte Olaf alles zusammen, womit er den Jungen überraschen wollte, schwang sich auf seinen Drahtesel und radelte direkt und ohne Umwege zum Krankenhaus. Dort angekommen führte sein Weg wie an all den vergangenen Wochen und Tagen an dem spärlich beleuchteten Schwesternzimmer vorbei. Oberschwester Berta nickte ihm wie immer freundlich zur Begrüßung zu, aber in ihren Augen lag etwas als wäre sie über irgendetwas beunruhigt. Olaf konnte oder wollte ihren besorgten Blick nicht wahrnehmen, denn er war viel zu sehr gedanklich damit beschäftigt, wie er Dimitri seinen Ehrentag so schön wie möglich gestalten konnte.
„Ein Hoch dem Geburtstagskind“ rief Olaf als er das Zimmer Nummer 7 betrat. „Mein lieber Junge ich wünsche dir von ganzem Herzen das Allerbeste. Bleibe weiterhin so tapfer und kämpfe. Du wirst sehen, irgendwann, ja vielleicht recht bald wird es dir besser gehen, und du hast den Krebs besiegt.“
Er setzte sich zu Dimitri auf sein Bett, umarmte den jungen Mann und drückte ihn ganz fest an sich. Noch während er in im Arm hielt und nochmals wiederholte: „Alles alles Liebe mein Junge“, bemerkte er, dass Dimitris Atem schwerfällig und unregelmäßig war. Vorsichtig, fast zärtlich ließ er von ihm ab. Er richtete sein Kissen auf und ließ seinen Kopf langsam hineingleiten.
„Dir geht es heute nicht besonders gut“ erkundigte sich Olaf, „soll ich Schwester Berta oder einen Arzt rufen, kann ich irgendetwas für dich tun?“ fragte er besorgt.
„Geht schon wieder“ stöhnte Dimitri „geht gleich vorbei. Schwester Berta hat mir schon eine Spritze verpasst. Denke mal die macht mich ein wenig müde.“
„Soll ich dich alleine lassen, damit du schlafen kannst?“ fragte Olaf nach, und ihm fiel der besorgte Blick von Oberschwester Berta ein.
„Nein ganz im Gegenteil. Ich freue mich, dass du hier bei mir bist. Und zur Feier des Tages habe ich mir auch etwas ausgedacht. Ich möchte mit dir ein Spiel spielen“ flüsterte Dimitri und man merkte ihm an, dass ihm das Sprechen schwer fiel.
„Alles was du willst“, sagte Olaf verwundert, „um was für ein Spiel handelt es sich? Kenne ich es?“
„Vielleicht vielleicht auch nicht“, stöhnte Dimitri und verzog dabei kurz schmerzhaft sein Gesicht. „Es heißt Vater und Sohn. Wir beide tun so als wäre es die Realität. Du bist mein leiblicher Vater, und ich bin dein leiblich geborener Sohn. Das Spiel ist ganz einfach und hat auch keine umständlichen Spielregeln. Ich gebe dir von mir ein bestimmtes Alter an und du erzählst mir von deinen Erinnerungen. Du bist der Erzähler und ich der Zuhörer. Hast du das Spiel verstanden?“
Olaf war sich sicher, ihm würden jede Menge Geschichten einfallen, hatte er doch in der Vergangenheit sich immer und immer wieder solche ausgemalt. Aber was Dimitri damit bezwecken wollte, konnte er nicht erraten. Dennoch sagte er: „Gut, die Regeln habe ich verstanden, aber welcher Sinn liegt darin?“
„Du wirst den Sinn erfahren, wenn die Zeit dafür reif ist“, sagte Dimitri „und bitte lass uns jetzt mit unserem Spiel beginnen.“
„Gut sagte Olaf, nenne mir ein Alter.“
Der junge Mann überlegte kurz und antwortete: „Es ist mein zehnter Geburtstag, an was kannst du dich erinnern?“
„Ich erinnere mich ganz genau an diesen Tag“, fing Olaf zu erzählen an, „ich schenkte dir an diesem Tag eine Angel. Es war eine Kinderangel, dennoch war sie voll funktionstüchtig. Oft hattest du mich zum Fluss begleitet und mir mit großen bewundernden Augen zugeschaut, wenn ich einen dieser schmackhaften Fische an Land zog. Und immer wieder hattest du gesagt, wenn du mal groß bist, dann würdest du dir eine eigene Angel kaufen, genauso eine wie ich sie hatte. Du warst richtig überwältigt über dein Geschenk und konntest kaum den Nachmittag abwarten, an dem wir beide zum Fluss mit unseren Fahrrädern radeln wollten. Als wir endlich unser Ziel erreichten, ließen wir unsere Ruten ins Wasser gleiten und warteten geduldig ab. Für dich war es ein Glückstag, denn nur kurze Zeit später hattest du einen stattlichen Fisch am Haken während ich leer ausging. Ich wollte dir helfen, aber du hast es ganz alleine, wenn auch unter großen Anstrengungen, geschafft, den kapitalen Burschen zu bergen. Plötzlich verdunkelte sich der Himmel, und uns überraschte ein Unwetter. Wir sammelten hastig unsere Sachen zusammen und suchten Schutz im nahegelegenen Wald. Es goss in Strömen. Ein Wolkenbruch jagte den anderen. Zum Glück hattest du einmal beim Spielen eine Höhle ausfindig gemacht. Die suchten wir auf und fanden dort Unterschlupf und Schutz vor dem Regen. Dort wollten wir dann solange abwarten bis sich das Wetter beruhigte. Mir knurrte der Magen, und lachend hast du mich gefragt ob ich Hunger hätte. Ich nickte, und du hattest dann die rettende Idee. Du schlugst vor, das Reisig, das sich in der Höhle befand, aufzusammeln und ein Feuer zu entfachen. Deiner Meinung nach hätte dies zwei Vorteile gehabt. Erstens würden wir uns am Feuer aufwärmen können, und zweitens könnte man ja den Fisch grillen und somit unseren Hunger stillen. Wir haben es genauso gemacht wie du es vorgeschlagen hattest. Wir sammelten alles Holz zusammen, zündeten es an und entfachten somit ein gemütliches und wärmendes Lagerfeuer. Den Fisch spießten wir auf einen Ast und hielten ihn abwechseln mal du mal ich über die lodernde Flamme. Als wir dann trocken und satt waren, klärte sich der Himmel wieder auf, und wir machten uns eiligst auf den Heimweg.
Am Abend dann, als ich dich zu Bett brachte, schlangst du deine kleinen Ärmchen um meinen Hals und riefst überglücklich: „Papi, das war der schönste und abenteuerlichste Geburtstag den ich je erlebt habe.“
Olaf schaute zu Dimitri und sah wie er ihn mit seinen großen, überglücklichen Augen anschaute. Lächelnd und dankbar sagte er zu Olaf: „Das war ein wunderschönes Erlebnis. Ich hatte eben das Gefühl, als hätte ich diesen Tag wirklich mit dir erlebt. Bitte höre nicht auf zu erzählen. An was erinnerst du dich als ich 6 Jahre alt wurde?“
„An deinem 6ten Geburtstag“, fing Olaf an zu erzählen, „habe ich dich ins Kino eingeladen. Es lief zu der Zeit gerade der Film vom kleinen Bambi. Am Ende des Films warst du so traurig, dass du bitterlich geweint hast. Fest hast du dich an mich angeschmiegt und immer wieder dein kleines Gesichten verschämt hinter meiner Hose verborgen. Ich nahm dich huckepack auf meine Schultern und versprach dir dafür zu sorgen, dass deine kleinen Kullertränen rasch verschwinden.
Wir machten erst Halt, als wir vor einer Eisdiele standen. Immer noch leise schluchzend fragtest du mich, ob wir jetzt ein Eis essen. Ich sagte aufmunternd und fröhlich: „Suche dir aus auf was du Appetit hast“, und noch bevor ich dich von meinen Schultern herablassen konnte, zeigtest du mit deinem Fingerchen auf den von allen Kindern beliebten Früchtebecher mit viel Schlagsahne.
Wir nahmen an einem Tisch Platz, und als endlich der Becher vor dir stand waren auch deine vielen kleinen Schluchzer und Tränen vergessen. Genüsslich und voller Hingabe machtest du dich daran das Eis in dich hineinzulöffeln.“
Olaf musste kurz auflachen, dann schaute er zu Dimitri. Der sah ihn immer noch mit seinen großen, dankbaren Augen an, und sein Lächeln verriet ihm dass er sich wohl fühlte.
Die Zimmertür öffnete sich, und Oberschwester Berta trat herein. Sie trat an Dimitris Bett und schaute voller Sorge zuerst auf ihn und dann zu Olaf. Sie hob ihren Arm und legte sanft und zärtlich ihre Hand auf Dimitris Augen. Und noch während sie die Augen des jungen Mannes für immer schloss, sagte sie voller Mitgefühl und Anteilnahme: „Herr Bergmann es ist Zeit, Abschied zu nehmen.“ Sie ging um das Bett herum, blieb neben Olaf stehen und streichelte sanft über dessen Haar. „Danke Herr Bergmann, auch im Namen von Dimitri vielen vielen Dank.“ Dann ließ sie die beiden Männer alleine.
Nun schaute Dimitri den Olaf nicht mehr an, aber sein Lächeln, ja sein ganzer glücklicher zufriedener Gesichtsausdruck war unverändert und war Dimitris Abschiedsgeschenk an Olaf.
Olaf wollte noch nicht ganz begreifen was geschehen war. Er nahm vorsichtig Dimitris Hand und drückte sie voller Liebe an sein Gesicht. Erst jetzt überkam ihn das Gefühl als wollte eine eiskalte Hand ihm sein Herz herausreißen. Dann weinte er, er weinte so sehr wie ein Vater nur um seinen Sohn weinen kann.
Olaf hatte das Gefühl, als wären endlose Stunden vergangen als er sich aus seinem Stuhl erhob und nun auch die Hand des jungen Mannes freigab. Schwerfällig, ohne sich noch einmal umzusehen, verließ er das Krankenzimmer.
Olaf klopfte an die Tür vom Schwesternzimmer und sagte ganz verzweifelt zu Schwester Berta: “Ich habe ihn in all den Wochen nicht einmal gefragt welche Haarfarbe er hatte. Wie konnte ich das nur vergessen?“
Schwester Berta zog einen Aktenordner aus ihrem Schrank und sagte: „Ich habe hier etwas für sie.“ Und noch während sie ihm einen weißen Umschlag übergab, meinet sie: „Dimitri hatte schwarzes, pechschwarzes Haar.“
Olaf öffnete mit zitternden Händen den ihm überreichten Umschlag und zog ein Foto heraus. Ein Foto von Dimitri. Es wurde noch vor der Chemotherapie aufgenommen, denn auf diesem Bild war es so zu sehen wie er eigentlich hätte aussehen müssen ohne diese schreckliche für ihn tödliche Krankheit. Mit vollem Haar, strahlenden lebenslustigen Augen und einem Lächeln, das dem aufgehen einer Morgensonne glich.
Auf der Rückseite las Olaf: „Im ewigen Andenken und Dankbarkeit an deinen Sohn ……………..Dimitri.“

Als Olaf nun endlich vor seinem Haus stand und die Wohnungstür aufschloss, kam ihm schon Susanne entgegen. Als sie in seine rotverweinten Augen sah, ahnte sie, was geschehen ist. Sie fragte nur: „Dimitri?“
Olaf nickte nur kurz und schleppte sich mit all seiner Kraft die Treppe hinauf, wo sich das Schlafzimmer befand.
Oben angekommen sagte er: „Ja Dimitri, mein Sohn.“
Er sagte diese Worte ganz leise eher flüsternd denn sie waren nur für ihn bestimmt. Diese Worte und seine Erinnerung an den jungen Mann, den Patienten von Zimmer 7.

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